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Integrative Hochbegabtenförderung
LVH aktuell, Nummer 17, November 2006, Aus der Wissenschaft, Seite 20 bis 23

Studiendirektorin Ingvelde Scholz
Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien) Stuttgart I, Leiterin der Projektgruppe Begabten- und Hochbegabtenförderung, Lehrbeauftragte für Latein und pädagogische Psychologie, Fachberaterin für Alte Sprachen am Regierungspräsidium Stuttgart, Lehrerin für Latein und Religion am Friedrich-Schiller-Gymnasium in Fellbach

Einstimmung

Als Einstieg in die Thematik möchte ich eine hoch begabte Schülerin selbst zu Wort kommen lassen, die inzwischen 16 Jahre alt ist. Sie hat in der sechsten Klasse eine Geschichte verfasst, durch ihr damaliger Deutschlehrer auf ihre Situation und ihre besonderen Fähigkeiten aufmerksam wurde. Die Geschichte trägt den Titel »Vom Leben in der Schule oder Der Weg der Schafherde zum Gipfel«. Ich zitiere die Schülerin:

„Der Schäfer treibt seine Schafherde den Berg hinauf, oben zum Gipfel, wo die saftigen, wohlschmeckenden Kräuter wachsen. Der Weg dorthin ist mühsam. Alle Schafe haben den gleichen Weg vor sich, der Hirte, so er erfahren ist, leitet sie, passt auf sie auf und führt sie zum Ziel. So ist es gedacht. Doch längst nicht alle Schafe kommen unbeschadet oben an, um sich an den Kräutern zu laben. Manche sind zu schwach und können der Herde nicht folgen. Andere sind übermütig und kommen im tückischen Hochgebirge ums Leben. Wieder andere sind schlichtweg zu faul. Genügsam begnügen sie sich mit dem Grase am Fuße des Berges, und auch wenn sie niemals in die Genüsse der Kräuter oben am Gipfel kommen werden, ist es ihnen die ersparte Mühe allemal wert. Neben denen, die den Gipfel aus unterschiedlichsten Gründen nie erreichen werden, gibt es noch die Mehrzahl der Schafe, die früher oder später ihr Ziel erreichen. Da gibt es besonders schwache Schafe, die es dank der Hilfe des Hirten und der Herde mit letzter Kraft auf den Gipfel schaffen. Andere Schafe sind sehr leichtsinnig und bringen mitunter die ganze Herde in Gefahr. Und neben all den Kleingruppen“ – so die Worte der hoch begabten Sechstklässlerin – „gibt es natürlich noch die große Zahl an Schafen, denen man die allgemeine Mittelmäßigkeit in allen Charaktereigenschaften als einzige Charaktereigenschaft zuordnen kann.“

Und dann berichtet die Schülerin von einigen wenigen Schafen, die den üblichen Rahmen sprengen – offensichtlich hoch begabte Schafe. Ich zitiere: »Aber in jeder Herde gibt es auch einige wenige, oft ist es nur ein einzelner, selten einmal zwei oder gar drei, die sehr kräftig und ausdauernd sind. Sie besitzen so viel Kraft, dass sie der Herde vorauseilen, gelockt von den saftigen Kräutern, die auf sie warten. Diese Schafe sprühen nur so vor Tatendrang und können es kaum erwarten, endlich ans Ziel zu kommen. Sie sind wachsam und umsichtig, so dass sie große Teile des Weges auch alleine meistern könnten. Doch die meisten Hirten erkennen dies nicht. Sie müssen ihre Herde beisammen halten, damit kein Schaf verloren geht, schließlich sollen am Ende möglichst alle Schafe auf dem Gipfel ankommen. Verärgert halten sie die Ausreißer zurück, häufig strafen und triezen sie die Tunichtgute unter dem schadenfrohen Grinsen der übrigen Schafe. Diese wenigen Schafe versuchen immer wieder auszureißen, ihren Fähigkeiten freien Lauf zu lassen, die Leckereien auf dem Weg zu genießen, doch eben so oft werden sie gebremst, gezügelt und gemaßregelt. Mit der Zeit verlieren sie ihre ehemals unbändige Sehnsucht nach den leckeren Kräutern auf dem Gipfel. Wozu denn eigentlich überhaupt noch weiterlaufen, fragt sich mancher von ihnen und bleibt einfach stehen, wo er ist. Doch die meisten dieser außergewöhnlichen Schafe laufen gleichgültig mit der Herde mit, auch wenn die Vorfreude auf den Gipfel sich längst in Luft aufgelöst hat.

Sehr wenige, besonders Glückliche, schaffen es, sich loszureißen, auszubüchsen und den Weg zu den Kräutern alleine zu finden. Doch man hört auch von einzelnen Schafen, die ihren Kampf um ihren verzweifelten und immer wieder gebremsten Drang, im eigenen Tempo den Gipfel zu erreichen, völlig aufgeben. Während alle anderen Schafe wohlbehalten oben angekommen sind, zufrieden an den Kräutern nagen und sich nun ins Leben stürzen, ist den außergewöhnlichen Schafen, von denen gerade die Rede war, dieses Glück nicht vergönnt. Sie waren es, die sich am meisten nach den Kräutern gesehnt hatten und die weit vor allen anderen den Gipfel hätten erreichen können, doch ihr Hunger wurde gezähmt, wurde so lange verwehrt, dass die Kräuter nun bitter schmecken. Gewiss, auch sie haben den Gipfel erreicht wie die vielen anderen, doch von ihrem ehemaligen Tatendrang, ihrer überschäumenden Kraft und ihrem unbändigen Forschergeist ist längst nichts mehr übrig geblieben und dass, obwohl doch gerade sie den Gipfel so sehnlichst erreichen wollten.« So weit die Tierfabel, die sehr nachdenklich stimmt.

Beim Zuhören haben Sie sich vermutlich einige Fragen gestellt:

  • Soll man und kann hoch begabte Schülerinnen und Schüler in ihrem bestehenden Klassenverband an einer ganz normalen Schule integrieren?
  • Kann man sie in solch einer heterogenen Gruppe überhaupt so fördern, dass auch sie ihre Fähigkeiten ausleben und zufrieden und glücklich ans Ziel gelangen können?
  • Oder ist es nicht besser, sie von der Herde zu trennen, also zu segregieren?

Beide Wege der Hochbegabtenförderung haben ihre Berechtigung und können – je nach individuellem, familiärem oder schulischem Kontext – richtig sein. Die integrative und segregative Hbförderung sind keinesfalls als Gegensatz, sondern als Ergänzung zu verstehen. Im Übrigen kann man diese Modelle natürlich nur in der Theorie fein säuberlich voneinander trennen, in der Praxis begegnen uns aus gutem Grund meist Mischmodelle.

Mit meinen folgenden Ausführungen möchte ich die Chancen und Herausforderungen der integrativen Hochbegabtenförderung skizzieren. Zur segregativen Förderung wird meine Nachrednerin Stellung nehmen, so dass ich darauf nicht einzugehen brauche. Zunächst sollen die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Danach werde ich familiäre und pädagogische und schließlich gesellschaftliche und rechtliche Gründe für die integrative Hochbegabtenförderung anführen.

1. Individuelle und soziale Gründe

Eine integrative Hochbegabtenförderung ermöglicht den betroffenen Kindern und Jugendlichen eine kontinuierliche Persönlichkeitsentwicklung ohne gravierende biographische Einschnitte oder gar Brüche. Denn die hb (hoch begabten) Kinder können an ihrer Heimatschule in ihrer vertrauten Umgebung und damit auch in ihrem Sozialverband verbleiben. Sie können die Beziehungen zu ihren Freunden, die möglicherweise über viele Jahre gewachsen sind, auch weiterhin intensiv pflegen. Das gibt ihnen emotionale Sicherheit und verschafft ihnen die nötige Geborgenheit. Schließlich können sie ihre Schullaufbahn relativ flexibel und differenziert gestalten, indem sie zu bestimmten Zeiten vermehrt Begabtenprogramme in Anspruch nehmen, zu anderen Zeiten – aus welchen Gründen auch immer – nur die übliche Hausmannskost genießen, um sich möglicherweise in der außerschulischen Zeit verstärkt ihrem Spezialgebiet zu widmen. Auch ist denkbar, dass manche bb (besonders begabten) Schüler nur in einem Fach eine ausgeprägte Hochbegabung (Hb) haben oder diese nur in einem bestimmten Fach gefördert wissen wollen, in anderen Fächern hingegen mit dem üblichen Programm zufrieden sind. An einem Hbgymnasium wird den hellen Köpfen hingegen oft bereits ab einem sehr frühen Alter ohne nähere Differenzierung durch eine entsprechende Akzeleration in allen bzw. sehr vielen Bereichen besonderer Einsatz abverlangt, selbst wenn sie dieser Forderung nicht immer und vor allem nicht in allen Fächern nachkommen wollen oder können. In Schulen mit integrativer Begabten- und Hochbegabtenförderung, aber auch in Schulen mit einem Hbzug können wir auf solche Entwicklungen relativ flexibel reagieren und ggf. korrigierend eingreifen: Stellen wir bei besonders und hb Schülern fest, dass die Fördermaßnahmen – aus welchen Gründen auch immer – zu einer Überlastung führen, so können wir diese Schüler innerhalb des Schulhauses durch einen Wechsel in eine andere Klasse oder einen anderen Zug entlasten. Umgekehrt gibt es bb Schülerinnen und Schüler, die als »Spätzünder« erst in höheren Klassen ihre Begabung zur vollen Entfaltung bringen möchten. Auch sie können im Rahmen der integrativen Begabtenförderung unterstützt und gefordert werden, ohne dass ein Schulwechsel mit bisweilen einschneidenden Veränderungen für die Betroffenen vonnöten ist.

2. Familiäre Gründe

Frau Dr. Sticker von der Universität Köln hat in ihrem Referat nicht ohne Grund auf die positiven sozialen Aspekte der integrativen Förderung hingewiesen. Das Aufwachsen in der Geborgenheit der Familie ist ein stützender Faktor in der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. Dies berichten viele betroffene Eltern, die aus gutem Grund eine dezentrale, wohnortnahe integrative Begabtenförderung bevorzugen. Auch werden belastete Familien, die ihren hb Kindern aus vielerlei Gründen nicht immer angemessene Angebote machen können, entlastet, wenn eine Schule vor Ort entsprechende Angebote machen kann, ohne dass ihr Kind auf die kontinuierliche emotionale Begleitung und Unterstützung der Familie verzichten muss. Manche Eltern plädieren auch deshalb für eine integrative Begabtenförderung, weil sie Etikettierungen oder gar Stigmatisierungen und Ausgrenzungen ihrer Kinder befürchten - etwa wenn ihr Kind eine Spezialschule besucht. Und schließlich kann das hb Kind (sofern es Geschwister hat) bei einer integrativen Förderung mit seinen normal begabten Geschwistern weiter zusammenleben und nimmt hier keinen Sonderstatus innerhalb der Familie ein, indem es z.B. ein Hbgymnasium mit Internat besucht, was über einen langen Zeitraum die Trennung von der Familie zur Folge hat.

3. Pädagogische Gründe

Im Rahmen der integrativen Hochbegabungsförderung können die hb, aber auch die normal begabten Kinder und Jugendlichen Selbstvertrauen und Sicherheit im Umgang mit der Vielfalt an unterschiedlichen Begabungen gewinnen. Bereits im Kindergarten und in der Grundschule ist es wichtig, dass unsere jungen Menschen tagtäglich erleben, dass sie unterschiedliche Begabungen, Bedürfnisse und Vorlieben haben. Diese Vielfalt regt die Kinder an und fordert sie heraus. Manchmal erzeugt diese Heterogenität aber auch große Spannungen und stellt hohe Anforderungen an die Gruppe bzw. Klasse. Denn nur mit Einfühlungsvermögen, Kompromissfähigkeit und gegenseitiger Rücksichtnahme kann ein gutes Miteinander gelingen. In einer bunt gemischten Gruppe können, sollen und müssen Kinder und Jugendliche diese sozialen Kompetenzen einüben – ein Prozess, der nicht immer einfach zu bewältigen, dafür aber umso notwendiger ist. Die hb Kinder bemerken möglicherweise in der Gruppe mit normal begabten Kindern zum ersten Mal, dass anderen die Verarbeitung von neuen Inhalten schwerer fällt. Dies verlangt ihnen mitunter viel Geduld ab. Die normal begabten Kinder erfahren im Gegenzug, dass einzelne Kinder manche Sachverhalte sehr schnell begreifen und mehr Herausforderungen benötigen als sie selbst. Auch sie sind aufgefordert, die hb Spiel- oder Schulkameraden in ihrer Besonderheit anzuerkennen und ihnen den nötigen Freiraum zu gewähren. Manchmal können die Hb ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten und Ideen aber auch in die Gruppe einbringen oder ihre Spiel- bzw. Schulkameraden bei der Lösung eines Problems unterstützen. Dieser Lernprozess kann zu gegenseitigem Verständnis und zu einem gelungenen Umgang miteinander führen – eine gute Grundlage für das spätere Leben im Studium und im Beruf, wo wir ja auch mit unterschiedlich begabten Menschen zu tun haben. Ich möchte auf einen weiteren Aspekt eingehen: Eine nicht vorhandene oder schlecht funktionierende integrative Hbförderung wirkt auch auf die Schule selbst zurück. Wenn sich bb und hb Schülerinnen und Schüler zurücknehmen oder gar die ihnen mögliche Leistung verweigern, um nicht als Streber betrachtet und ausgegrenzt zu werden, dann hat dies gravierende Auswirkungen auf die Leistungsbereitschaft aller Schülerinnen und Schüler. Das belegen verschiedene Untersuchungen. Wenn man hingegen im Unterricht begabte und motivierte Schüler integriert, fördert und fordert, steigt mittel- und langfristig das Niveau insgesamt. Begabtenförderung kommt also allen Schülern zugute und wirkt sich positiv auf das schulische Klima aus. Dies belegen auch die Erfahrungen und Berichte von Frau Professor von Tassel-Baska aus den USA sowie von Frau Dr. Robinson aus England.

4. Gesellschaftliche Gründe

Die TIMSS- und PISA-Studien haben deutlich gemacht, dass viele Begabungs-, Interessen- und Leistungspotentiale unserer Schülerinnen und Schüler brach liegen und nicht ausreichend gefördert werden. Bildungs- und schulpolitisch steht daher außer Frage, dass eine landesweite Förderung besonders und hb Kinder und Jugendlicher eine vordringliche Aufgabe darstellt. Baden-Württemberg hat hier mit der Einführung der Begabten-AGs und ähnlicher Initiativen bereits Mitte der 80er Jahre eine Vorreiterrolle eingenommen, die durch vielfältige Fördermaßnahmen sukzessive ausgebaut wurde und kontinuierlich weiterentwickelt wird. Vor allem die integrativen Begabten- und Hochbegabtenprogramme erfassen einen sehr großen Personenkreis. Denn sie sind nicht auf wenige Schulen oder Ballungsgebiete beschränkt. Vielmehr können betroffene Familien auch in ländlichen Regionen an solchen Begabtenprogrammen teilhaben. Solch eine flächendenkende Hbförderung legt die Grundlage für eine hohe Innovationsfähigkeit, auf die unsere Gesellschaft nicht verzichten kann.

5. Rechtliche Gründe

Nach den Verfassungen der Länder ist eine neigungs- und begabungsgerechte Beschulung zu sichern. So heißt es in der Landesverfassung Baden-Württembergs in Artikel 11: »Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft und wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung. Das öffentliche Schulwesen ist danach zu gestalten.« Diese gesetzliche Verpflichtung wird zunehmend so interpretiert, dass Kinder und Jugendliche auf allen Niveaus des Begabungsspektrums zu fördern seien. Lehr- und Lernaktivitäten sollen also nicht ausschließlich auf den breiten Durchschnitt der mittleren Begabung ausgerichtet werden, sondern ergänzt werden durch besondere Angebote für Langsamere und Lernschwächere. Und das ist auch gut und wichtig. Aber es gibt eben noch eine zweite Minderheit am anderen Ende der Begabungsskala, die auch eine Förderung braucht, die sich an ihren Bedürfnissen und Voraussetzungen orientiert. Bei hb Kindern ist man dieser Forderung nach Passung in der Vergangenheit bislang noch zu wenig nachgekommen. Die integrative Hochbegabtenförderung bietet hb Kindern und Jugendlichen vielfältige Möglichkeiten, die selbstverständlich durch weitere Fördermaßnahmen im schulischen und außerschulischen Bereich ergänzt werden sollten.

Die Profilgruppe Begabten- und Hochbegabtenförderung am Seminar I für Didaktik und Lehrerbildung in Stuttgart hat vor allem zur integrativen Begabten- und Hochbegabtenförderung verschiedene Überlegungen angestellt und erste Unterrichtsmodelle entwickelt. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung unter der E-Mail-Anschrit ritterburg@t-online.de

In dieser Gruppe beschäftigen sich Fachleiter unterschiedlichster Fächer mit pädagogischen, didaktischen, methodischen Fragen und unterrichtsorganisatorischen Aspekten der Hbförderung. Das Ziel unserer Arbeit besteht darin, vielfältige Beratungs- und Fördermöglichkeiten für Hb zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln, die an ganz normalen Schulen umgesetzt werden können.

Die Mitarbeiter der Profilgruppe sind neben ihrer Seminartätigkeit an verschiedenen Schulen tätig, an denen unterschiedliche Wege der Begabten- und Hochbegabtenförderung beschritten werden, von der Binnendifferenzierung über die temporäre äußere Differenzierung bis hin zur Kooperation mit außerschulischen Lernpartnern wie z.B. dem Kepler-Seminar in Stuttgart, dem Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm oder der Kinder- und Jugendakademie in Stuttgart.

Ausklang

Als Kontrast und Ergänzung zur Geschichte »Der Weg der Schafherde zum Gipfel« möchte ich meine Ausführungen mit der Erzählung des Reformpädagogen Célestin Freinet ausklingen lassen, die den Titel trägt »Adler steigen keine Treppen« oder »Vom methodischen Treppensteigen«: »Der Pädagoge hatte seine Methoden aufs genaueste ausgearbeitet: Er hatte – so sagte er – ganz wissenschaftlich die Treppe gebaut, die zu den verschiedenen Etagen des Wissens führt, mit vielen Versuchen hatte er die Höhe der Stufen ermittelt, um sie der normalen Leistungsfähigkeit kindlicher Beine anzupassen; da und dort hatte er einen Treppenabsatz zum Atemholen eingebaut und an einem bequemen Geländer konnten die Anfänger sich festhalten. Doch wie fluchte dieser Pädagoge! Nicht etwa auf die Treppe, die ja offensichtlich mit Klugheit ersonnen und erbaut worden war, sondern auf die Kinder, die kein Gefühl für seine Fürsorge zu haben schienen. Er fluchte aus folgendem Grund: solange er dabei stand, um die methodische Nutzung dieser Treppe zu beobachten, wie Stufe um Stufe empor geschritten wurde, an den Absätzen ausgeruht und sich an dem Geländer festgehalten wurde, da lief alles ganz normal ab. Aber kaum war er für einen Augenblick nicht da, sofort herrschten Chaos und Katastrophe! Nur diejenigen, die von Schule schon genügend autoritär geprägt waren, stiegen methodisch Stufe für Stufe, sich am Geländer festhaltend, auf dem Absatz verschnaufend, weiter die Treppe hoch – wie Schäferhunde, die ihr Leben darauf dressiert wurden, passiv ihrem Herrn zu gehorchen, und die es aufgegeben hatten, ihrem ursprünglichen Rhythmus zu folgen, der durch Dickichte bricht und Pfade überschreitet. Die Kinderhorde besann sich auf ihre Instinkte und fand ihre Bedürfnisse wieder: Eines bezwang die Treppe genial auf allen Vieren; ein anderes nahm mit Schwung zwei Treppenstufen auf einmal und ließ die Absätze aus. Es gab sogar welche, die versuchten, rückwärts die Treppe hinaufzusteigen und die es darin wirklich zu einer gewissen Meisterschaft brachten. Die meisten aber fanden, dass die Treppe ihnen zu wenig Abenteuer und Reize biete. Sie rasten um das Haus, kletterten die Regenrinne hoch, stiegen über die Balustraden und erreichten das Dach in einer Rekordzeit, besser und schneller als über die so genannte methodische Treppe. Einmal oben angelangt, rutschten sie das Treppengeländer runter, um den abenteuerlichen Aufstieg noch einmal zu wagen. Der Pädagoge aber machte Jagd auf die Kinder, die sich weigerten, die von ihm als normal gehaltenen Wege zu benutzen. Hat er sich einmal gefragt, ob nicht zufällig seine Wissenschaft von der Treppe eine falsche Wissenschaft sein könnte, und ob es nicht schnellere und zuträglichere Wege gäbe, auf denen auch gehupft und gesprungen werden könnte: Ob es nicht eine Pädagogik für Adler geben könnte, die keine Treppen steigen, um nach oben zu kommen?«

Ich bin zuversichtlich, dass es solch eine integrative Pädagogik, Didaktik und Methodik für Adler gibt – eine Pädagogik, die auch den besonderen Bedürfnissen und Fähigkeiten der besonders und hb Schülerinnen und Schüler gerecht wird, ohne die anderen Schüler aus den Augen zu verlieren. Es gibt eben unterschiedliche Wege und Methoden, einen Gipfel zu erklimmen.