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Es ist normal verschieden zu sein:
Pädagogik der Vielfalt

Ingvelde Scholz ist Lehrerin und bildet am Seminar für Didaktik und Lehrerbildung in Stuttgart Referendare aus. Anstelle des Gleichheitsgedankens gilt ihr besonderes Interesse vor allem der Heterogenität von Schülerinnen und Schülern.

Frau Scholz, Sie sind als Lehrerin tätig. Was genau sind Ihre Aufgabenbereiche?

Ich unterrichte am Friedrich-Schiller-Gymnasium in Fellbach bei Stuttgart die Fächer Latein und evangelische Religion. Darüber hinaus bilde ich als Fachleiterin für Latein und Pädagogische Psychologie junge Lehrer aus und leite die Profilgruppe "Begabtenförderung und Binnendifferenzierung". In dieser Projektgruppe erarbeiten Fachleiter, Referendare und interessierte Kolleginnen und Kollegen verschiedener Schulen ganz konkrete Unterrichtsmodelle und Materialien, die regelmäßig weiterentwickelt werden. Im Mittelpunkt unserer praktischen Arbeit steht immer wieder die Frage: Wie kann es uns an ganz normalen Schulen gelingen, Schüler mit besonderen Begabungen sowie mit Lernschwierigkeiten zu erkennen, zu fördern und zu fordern?

Was ist für Sie das Besondere an heterogenen Lerngruppen?

Unsere Lerngruppen zeichnen sich durch eine große Vielfalt aus, denn unsere Schülerinnen und Schüler unterscheiden sich im Hinblick auf ihren Erfahrungshintergrund, ihre allgemeinen Fähigkeiten, ihre Motivation, ihr Lerntempo, ihr Vorwissen und vieles andere mehr.
Mit anderen Worten: Wir haben es mit einer sehr bunten Mischung zu tun.

Doch oft wird an unseren Schulen das Prinzip des Gleichschritts, des sog. 7-G-Unterrichts praktiziert: Die gleichen Schüler lösen beim gleichen Lehrer im gleichen Raum zur gleichen Zeit im gleichen Tempo die gleichen Aufgaben mit dem gleichem Ergebnis. Das ist natürlich eine Illusion, von der wir uns verabschieden sollten.

Die Heterogenität fordert uns heraus, unseren Unterricht an den unterschiedlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten der Schüler zu orientieren.

Nach meinen Erfahrungen sind auch Disziplinprobleme oft dadurch bedingt, dass einige Schüler sich über- oder unterfordert fühlen und deshalb abschalten. Sie fühlen sich einfach nicht mehr richtig in den Unterricht und in die Klasse eingebunden und entwickeln sich zum Klassenclown, Tagträumer oder Störenfried.

Denken Sie, dass heterogene Lerngruppen bereits in der Lehrerausbildung berücksichtigt werden sollten?

Unbedingt, bisher wurde dieses wichtige Thema viel zu wenig berücksichtig. Wir haben immer noch dieses Gleichheitsideal und es fällt uns schwer zu akzeptieren, dass einige Schüler im Lernprozess manchmal erst am Anfang stehen, während andere bereits viel weiter sind. Da gilt es erstmal auszuhalten.

Unsere jungen Lehrerinnen und Lehrer wurden in der Vergangenheit viel zu wenig auf diese Heterogenität vorbereitet. Deshalb gehört der Umgang mit Heterogenität am Seminar Stuttgart mittlerweile zum festen Baustein der Gymnasiallehrerausbildung.
Die Grundschulen sind da bekanntlich schon viel weiter.

Wie kam die Differenzierung der heterogenen Lerngruppen bei Ihnen im Kollegium und bei den Eltern an?

Einige Kolleginnen und Kollegen hatten zunächst Angst, dass dadurch ihr Arbeitsaufwand und ihre Unterrichtsvorbereitung erheblich gesteigert würden.
Andere waren der Meinung, dass die schwächeren Schüler sich mehr anstrengen sollten, weil sie sonst nicht auf diese Schulform gehören würden. Das waren aber nur wenige.
Wieder andere fanden diese Herangehensweise sehr interessant und haben gemeinsam Konzepte zur Differenzierung erarbeitet.

Die Eltern hatten zunächst ein bisschen Angst vor der Etikettierung oder gar Stigmatisierung ihrer Kinder. Nach dem Motto: Wenn mein Kind zu denjenigen gehört, die mehr geistiges Futter als andere benötigen, wird es vielleicht als Streber gehänselt. Umgekehrt gab es auch Eltern, die Angst hatten, dass ihr Kind ins Hintertreffen gerät, wenn es zu der Gruppe gehört, in der etwas wiederholt wird. Denn die anderen könnten ja denken: "Der hat es wohl immer noch nicht kapiert."

Diese Ängste muss man sehr ernst nehmen. Bisher haben sie sich nach meinen Erfahrungen jedoch nicht bewahrheitet. Ganz im Gegenteil, die Schüler sind in diesen differenzierten Unterrichtsphasen sehr gut miteinander umgegangen. Es war und ist für sie selbstverständlich, dass sie unterschiedlich sind und es kommt keinesfalls automatisch zu Ausgrenzungen. Deswegen auch der Titel meiner heutigen Veranstaltung: "Es ist normal verschieden zu sein."

Seit wann arbeiten Sie mit dieser Methode?

Intensiv arbeite ich seit etwa vier bis fünf Jahren mit dieser Methode, wobei ich selbstverständlich auch über weite Strecken traditionelle Unterrichtsformen praktiziere. Die Mischung macht's!

An der Schule haben wir zunächst einen sanften Weg beschritten und erst mal in zwei Fächern mit Phasen der Differenzierung begonnen haben. Wir haben uns da sehr kooperativ verhalten, gemeinsam Materialien erstellt - das spart ja auch Zeit und Arbeit -,uns gegenseitig im Unterricht besucht und uns anschließend über unsere Eindrücke ausgetauscht. Und wir haben von vornherein gesagt, wir würden das Experiment auch wieder abbrechen, wenn es nicht klappen sollte. Ich glaube, dieser sanfte Einstieg war sehr wichtig, damit sich niemand überrumpelt fühlt.
Im Stuttgarter Raum wird dieser sanfte Weg inzwischen an einigen Schulen umgesetzt, die uns auch schon zu pädagogischen Tagungen und Fortbildungen eingeladen haben. Insofern bin ich sehr optimistisch, dass wir gemeinsam noch weitere Schritte gehen werden.

Schwerpunkt des Sucht- und Gewaltpräventionsprogramms Sign sind Persönlichkeitsstärkung und die Förderung der Lebenskompetenz. Dazu gehört auch, individuell auf Schüler einzugehen. Denken Sie, die Schüler nehmen durch die heterogenen Lerngruppen etwas für ihr späteres Leben mit?

Ich denke, dass die Schwerpunkte des Sign-Projekts sehr wichtig sind, weil Heterogenität dadurch noch sehr viel weiter gefasst wird. Wir Lehrer haben vor allem den schulischen Bereich im Blick und sind für den Umgang mit Gewalt- und Suchtproblemen häufig gar nicht ausgebildet. Da ist es wichtig, kompetente Ansprech- und Kooperationspartner an seiner Seite zu haben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Quelle:
Reader zur 23. Pädagogischen Woche und 3. Eltern-Universität der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, Oktober 2006, Seite 46-47.